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Robert Proctor: «Golden Holocaust: Origins of the Cigarette Catastrophe and the Case for Abolition»
Wie viele Tote fordert Rauch?
Der Titel ist provokant: «Golden Holocaust». Der renommierte Wissenschaftshistoriker an der Stanford University in Kalifornien ist sich der Problematik wohl bewusst, wie er auf Anfrage klarstellt. Proctor hat sich mit seinen Büchern zur Rassenhygiene und zur Krebsforschung im Nationalsozialismus einen Namen gemacht. «Ich weiss, dass der Genozid an Europas Juden nicht mit den Opfern des Rauchens zu vergleichen ist. Mit dem Begriff ‹Holocaust› verwende ich eine starke Rhetorik, die auch auf Provokation setzt», bekennt er.
Ist das nötig? Rauchfreie Zonen allerorten, deutliche Warnungen auf den Packungen, zurückgehende Raucherzahlen in Europa und den USA – der Kampf gegen den blauen Dunst scheint doch gewonnen. «Scheint», sagt Proctor. Denn die eigentliche Katastrophe stehe uns noch bevor: Im 20.Jahrhundert starben «nur» etwa 100 Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums (jeder zweite Raucher). Das ergibt sich laut Proctor aus dem statistischen Vergleich der Lebenserwartung von Rauchern und Nichtrauchern.
Sind sie wirklich am Zigarettenrauch gestorben? Proctors Antwort: Zu Beginn des 20.Jahrhunderts gab es kaum dokumentierte Fälle von Lungenkrebs, dann stieg die Kurve steil an – parallel zum erst dann massiv einsetzenden Zigarettenkonsum. Derzeit geht die WHO jährlich von etwa 6 Millionen Toten aus, Tendenz steigend. Allein in China, dem grössten Wachstumsmarkt der Tabakindustrie mit noch schwacher Regulierung, werden im Laufe des 21.Jahrhunderts vermutlich Hunderte Millionen Menschen vorzeitig sterben, weltweit bis zu einer Milliarde.
US-Tabakindustrie vor Gericht
In seinem Buch verwendet Proctor gerne das Bild des verspiegelten Glases, hinter dem sich die Zigarettendreher verstecken. Sie sehen alles, aber agieren völlig geheim. «Golden Holocaust» erlaubt nun den Blick dahinter.
Infolge des Vergleichs mit 46 US-Bundesstaaten von 1998 wurde die US-Tabakindustrie nicht nur zu immensen Schadenersatzforderungen in dreistelliger Milliardenhöhe verurteilt, sondern auch dazu, ihre Unterlagen aus den zurückliegenden Prozessen zu übergeben. So entstand die Legacy Tobacco Documents Library, die derzeit 13 Millionen Dokumente enthält (http://legacy.library.ucsf.edu). Insgesamt über 70 Millionen Seiten zu Produktion, Werbung und Forschung der Tabakindustrie liefern zahlreiche Nuggets für «Golden Holocaust».
Verleugneter Lungenkrebs
Als sich in den USA Anfang der Fünfzigerjahre ein wissenschaftlicher Konsens herausbildete, dass Rauchen Lungenkrebs hervorruft, waren Philip Morris und andere Konzerne alarmiert. Und initiierten, so Proctor, die «ehrgeizigste und erfolgreichste Betrugskampagne der Moderne». Sie gründeten das Council for Tobacco Research und investierten Hunderte Millionen Dollar, um die Gefahren des Rauchens zu untersuchen – vermeintlich.
Denn kein Beleg war ihnen gut genug. Die Alibiforschung diente laut Proctor einzig dem Zweck, Zeit zu schinden, um weiterhin möglichst viele Zigaretten verkaufen zu können. «Zweifel ist unser Produkt», hiess es etwa 1969 in einem internen Memo von Brown & Williamson. Bis in die 1990er-Jahre war für die Tabakindustrie die Gesundheitsgefährdung durch Rauchen nicht bewiesen, sondern «umstritten».
Wann konnte man es wissen?
Nachdem sich die Tabakindustrie Heerscharen von Medizinern und Chemikern, ja halbe Universitäten mit ihren Millionen dienstbar gemacht hatte, waren als Nächstes die Historiker dran, die Hand aufzuhalten. Ab den 80er-Jahren wurde die Tabaklobby mit Schadensersatzklagen überzogen. Bei den Prozessen war die entscheidende Frage, ab wann bekannt war, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist. Die Verteidigung verfolgte eine dreiste Doppelstrategie. Einerseits: Otto Normalraucher müsse klar gewesen sei, welches Risiko er eingegangen sei. Er dürfe sich jetzt nicht beschweren, dass er an Lungenkrebs sterbe. Andererseits: Der Industrie sei kein Vorwurf zu machen, sie habe ja geforscht, aber leider keinen stichhaltigen Beweis liefern können. Gutachten von Historikern sollten dies belegen. Nur seien diese von Auslassungen und Verzerrungen gekennzeichnet, so Proctor. Denn wieder galt es: Nebel werfen und Zweifel säen. Proctor scheut sich nicht, seine Kollegen an den Pranger zu stellen: Er listet 48 Historiker auf, die häufig anonym als Experten für die Tabakindustrie arbeiteten und dafür nicht selten Honorare in Millionenhöhe erhielten. 500000 Dollar kassierte Sylvester Stallone dafür, dass er in fünf «Rocky»-Filmen Zigaretten von Brown& Williamson paffte. Die lange Liste der Schauspieler und Studios, die mittels Product Placement Werbung für Zigaretten machten, liest sich fast wie ein Who-is-who der Kinogeschichte. Bis zum heutigen Tag, siehe Sigourney Weaver in «Avatar». Die qualmenden Kinohelden sollen «Starters» animieren, wie die Marketingleute von Big Tobacco sagen. Die Tabakindustrie versucht gezielt Jugendliche zum Rauchen zu animieren. Je früher sie abhängig werden, desto «besser», so das perfide Kalkül.
Gefährliche Asche
Sechs Billionen Zigaretten werden jährlich hergestellt und geraucht. In einer Zahl mit Nullen: 6000000000000. Proctor kann anhand der bis dato geheimen Unterlagen mit erschreckenden Details zeigen, wie die Tabakindustrie an dem ein Gramm schweren Stängel herumfeilt: von dem Geruch und der Brennbarkeit des Tabaks über die Farbe des Papiers – am besten Elfenbeinweiss – bis hin zur Konsistenz der Asche. Arsen, Blei und Asbest waren in früheren Jahren drin, Pflanzenschutzmittel und weitere Karzinogene sind es bis heute.
Und Polonium 210 – ja, Radioaktivität wird auch inhaliert. Der Nikotingehalt wird bewusst und präzise hoch gehalten, damit die Nutzer abhängig werden. Filterzigaretten und «Light»-Marken machen Zigaretten keineswegs gesünder, ein weiteres Täuschungsmanöver.
Die Lobby gegen Proctor
Wie Robert Proctor im Gespräch berichtet, wird er schon seit Jahren gleichsam überwacht. Die Anwälte der Tabakindustrie senden etwa Undercover-Abgesandte zu seinen Vorträgen. Schon über vierzigmal wurde er von den Verteidigern der Konzerne vorgeladen und jeweils acht Stunden lang einvernommen. «Das sind regelrechte Verhöre», sagt Proctor über diese Form der Beweisaufnahme. Er muss diese über sich ergehen lassen, weil er in den Prozessen als Experte für die Anklage aussagt. Lange vor der Veröffentlichung des Buches forderte die Tabakindustrie die Herausgabe des Manuskripts, es sei ein «Beweismittel». Proctor wusste dies zu verhindern, indem er sich als Journalist deklarierte – und journalistische Recherchen sind rechtlich besser geschützt als historische.
In «Golden Holocaust» spricht ein Mann mit einer Mission, aber Proctor tut es ohne Schaum vor dem Mund. Die Polemik ist wohldosiert, das Moralin gut verträglich. Das Buch liest sich blendend, glänzt mit Aperçus und Witz. Historische Forschung und politisches Programm müssen sich nicht ausschliessen. Proctor unterbreitet am Ende konkrete Vorschläge zur Reduktion des Tabakkonsums. Und er ist, der Leser wundert sich ein wenig, tatsächlich optimistisch, dass die Menschen langfristig das Rauchen aufgeben werden. Damit sie das für Proctor tödlichste Ding, das sie je erfunden haben, nicht mehr zwischen die Lippen stecken: die Zigarette.
Das Buch: Robert Proctor: «Golden Holocaust: Origins of the Cigarette Catastrophe and the Case for Abolition». Ca. 40 US-$, 752 S. University of California Press, Berkeley 2012. (Berner Zeitung)
Erstellt: 17.03.2012, 14:50 Uhr
Wie viele Tote fordert Rauch?
Der Titel ist provokant: «Golden Holocaust». Der renommierte Wissenschaftshistoriker an der Stanford University in Kalifornien ist sich der Problematik wohl bewusst, wie er auf Anfrage klarstellt. Proctor hat sich mit seinen Büchern zur Rassenhygiene und zur Krebsforschung im Nationalsozialismus einen Namen gemacht. «Ich weiss, dass der Genozid an Europas Juden nicht mit den Opfern des Rauchens zu vergleichen ist. Mit dem Begriff ‹Holocaust› verwende ich eine starke Rhetorik, die auch auf Provokation setzt», bekennt er.
Ist das nötig? Rauchfreie Zonen allerorten, deutliche Warnungen auf den Packungen, zurückgehende Raucherzahlen in Europa und den USA – der Kampf gegen den blauen Dunst scheint doch gewonnen. «Scheint», sagt Proctor. Denn die eigentliche Katastrophe stehe uns noch bevor: Im 20.Jahrhundert starben «nur» etwa 100 Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums (jeder zweite Raucher). Das ergibt sich laut Proctor aus dem statistischen Vergleich der Lebenserwartung von Rauchern und Nichtrauchern.
Sind sie wirklich am Zigarettenrauch gestorben? Proctors Antwort: Zu Beginn des 20.Jahrhunderts gab es kaum dokumentierte Fälle von Lungenkrebs, dann stieg die Kurve steil an – parallel zum erst dann massiv einsetzenden Zigarettenkonsum. Derzeit geht die WHO jährlich von etwa 6 Millionen Toten aus, Tendenz steigend. Allein in China, dem grössten Wachstumsmarkt der Tabakindustrie mit noch schwacher Regulierung, werden im Laufe des 21.Jahrhunderts vermutlich Hunderte Millionen Menschen vorzeitig sterben, weltweit bis zu einer Milliarde.
US-Tabakindustrie vor Gericht
In seinem Buch verwendet Proctor gerne das Bild des verspiegelten Glases, hinter dem sich die Zigarettendreher verstecken. Sie sehen alles, aber agieren völlig geheim. «Golden Holocaust» erlaubt nun den Blick dahinter.
Infolge des Vergleichs mit 46 US-Bundesstaaten von 1998 wurde die US-Tabakindustrie nicht nur zu immensen Schadenersatzforderungen in dreistelliger Milliardenhöhe verurteilt, sondern auch dazu, ihre Unterlagen aus den zurückliegenden Prozessen zu übergeben. So entstand die Legacy Tobacco Documents Library, die derzeit 13 Millionen Dokumente enthält (http://legacy.library.ucsf.edu). Insgesamt über 70 Millionen Seiten zu Produktion, Werbung und Forschung der Tabakindustrie liefern zahlreiche Nuggets für «Golden Holocaust».
Verleugneter Lungenkrebs
Als sich in den USA Anfang der Fünfzigerjahre ein wissenschaftlicher Konsens herausbildete, dass Rauchen Lungenkrebs hervorruft, waren Philip Morris und andere Konzerne alarmiert. Und initiierten, so Proctor, die «ehrgeizigste und erfolgreichste Betrugskampagne der Moderne». Sie gründeten das Council for Tobacco Research und investierten Hunderte Millionen Dollar, um die Gefahren des Rauchens zu untersuchen – vermeintlich.
Denn kein Beleg war ihnen gut genug. Die Alibiforschung diente laut Proctor einzig dem Zweck, Zeit zu schinden, um weiterhin möglichst viele Zigaretten verkaufen zu können. «Zweifel ist unser Produkt», hiess es etwa 1969 in einem internen Memo von Brown & Williamson. Bis in die 1990er-Jahre war für die Tabakindustrie die Gesundheitsgefährdung durch Rauchen nicht bewiesen, sondern «umstritten».
Wann konnte man es wissen?
Nachdem sich die Tabakindustrie Heerscharen von Medizinern und Chemikern, ja halbe Universitäten mit ihren Millionen dienstbar gemacht hatte, waren als Nächstes die Historiker dran, die Hand aufzuhalten. Ab den 80er-Jahren wurde die Tabaklobby mit Schadensersatzklagen überzogen. Bei den Prozessen war die entscheidende Frage, ab wann bekannt war, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist. Die Verteidigung verfolgte eine dreiste Doppelstrategie. Einerseits: Otto Normalraucher müsse klar gewesen sei, welches Risiko er eingegangen sei. Er dürfe sich jetzt nicht beschweren, dass er an Lungenkrebs sterbe. Andererseits: Der Industrie sei kein Vorwurf zu machen, sie habe ja geforscht, aber leider keinen stichhaltigen Beweis liefern können. Gutachten von Historikern sollten dies belegen. Nur seien diese von Auslassungen und Verzerrungen gekennzeichnet, so Proctor. Denn wieder galt es: Nebel werfen und Zweifel säen. Proctor scheut sich nicht, seine Kollegen an den Pranger zu stellen: Er listet 48 Historiker auf, die häufig anonym als Experten für die Tabakindustrie arbeiteten und dafür nicht selten Honorare in Millionenhöhe erhielten. 500000 Dollar kassierte Sylvester Stallone dafür, dass er in fünf «Rocky»-Filmen Zigaretten von Brown& Williamson paffte. Die lange Liste der Schauspieler und Studios, die mittels Product Placement Werbung für Zigaretten machten, liest sich fast wie ein Who-is-who der Kinogeschichte. Bis zum heutigen Tag, siehe Sigourney Weaver in «Avatar». Die qualmenden Kinohelden sollen «Starters» animieren, wie die Marketingleute von Big Tobacco sagen. Die Tabakindustrie versucht gezielt Jugendliche zum Rauchen zu animieren. Je früher sie abhängig werden, desto «besser», so das perfide Kalkül.
Gefährliche Asche
Sechs Billionen Zigaretten werden jährlich hergestellt und geraucht. In einer Zahl mit Nullen: 6000000000000. Proctor kann anhand der bis dato geheimen Unterlagen mit erschreckenden Details zeigen, wie die Tabakindustrie an dem ein Gramm schweren Stängel herumfeilt: von dem Geruch und der Brennbarkeit des Tabaks über die Farbe des Papiers – am besten Elfenbeinweiss – bis hin zur Konsistenz der Asche. Arsen, Blei und Asbest waren in früheren Jahren drin, Pflanzenschutzmittel und weitere Karzinogene sind es bis heute.
Und Polonium 210 – ja, Radioaktivität wird auch inhaliert. Der Nikotingehalt wird bewusst und präzise hoch gehalten, damit die Nutzer abhängig werden. Filterzigaretten und «Light»-Marken machen Zigaretten keineswegs gesünder, ein weiteres Täuschungsmanöver.
Die Lobby gegen Proctor
Wie Robert Proctor im Gespräch berichtet, wird er schon seit Jahren gleichsam überwacht. Die Anwälte der Tabakindustrie senden etwa Undercover-Abgesandte zu seinen Vorträgen. Schon über vierzigmal wurde er von den Verteidigern der Konzerne vorgeladen und jeweils acht Stunden lang einvernommen. «Das sind regelrechte Verhöre», sagt Proctor über diese Form der Beweisaufnahme. Er muss diese über sich ergehen lassen, weil er in den Prozessen als Experte für die Anklage aussagt. Lange vor der Veröffentlichung des Buches forderte die Tabakindustrie die Herausgabe des Manuskripts, es sei ein «Beweismittel». Proctor wusste dies zu verhindern, indem er sich als Journalist deklarierte – und journalistische Recherchen sind rechtlich besser geschützt als historische.
In «Golden Holocaust» spricht ein Mann mit einer Mission, aber Proctor tut es ohne Schaum vor dem Mund. Die Polemik ist wohldosiert, das Moralin gut verträglich. Das Buch liest sich blendend, glänzt mit Aperçus und Witz. Historische Forschung und politisches Programm müssen sich nicht ausschliessen. Proctor unterbreitet am Ende konkrete Vorschläge zur Reduktion des Tabakkonsums. Und er ist, der Leser wundert sich ein wenig, tatsächlich optimistisch, dass die Menschen langfristig das Rauchen aufgeben werden. Damit sie das für Proctor tödlichste Ding, das sie je erfunden haben, nicht mehr zwischen die Lippen stecken: die Zigarette.
Das Buch: Robert Proctor: «Golden Holocaust: Origins of the Cigarette Catastrophe and the Case for Abolition». Ca. 40 US-$, 752 S. University of California Press, Berkeley 2012. (Berner Zeitung)
Erstellt: 17.03.2012, 14:50 Uhr